Erfahrungsbericht Volker Köllner
Anamnesegruppen-Erfahrungsbericht aus dem Buch "Wartburgphänomen Gesundheit"
Volker Köllner - Perspektive Chefarzt und Hochschullehrer
Mein erster Besuch bei einem Maitreffen ist inzwischen fast 30 Jahre her. Damals war ich als Medizinstudent in Bonn sehr enttäuscht darüber, dass weder das Gespräch mit dem Patienten noch die Reflektion darüber, welche Bedeutung seine Symptome und Krankheiten möglicherweise in seinem Lebenskontext haben könnten, oder eine längerfristige Perspektive zum Aufbau von Gesundheit im Lehrplan vorkamen. Wenn mir eine Alternative eingefallen wäre, hätte ich wohl das Studium abgebrochen - das Erlernen zahlloser gegenstandskatalogkonformer Details ohne Sinnzusammenhang erschien mir wenig erstrebenswert. Damals erschien mir das Konzept der Anamnesegruppe als Offenbarung, und so ist es bis heute geblieben. Ausgangspunkt ist der Patient mit seinen Symptomen, seinem Körper, seinen Gefühlen, seiner Krankheits- und Lebensgeschichte. Hierüber wird in der Gruppe reflektiert - aus unterschiedlichen Perspektiven entsteht ein Gesamtbild. In dieses Gesamtbild konnte ich dann auch die biomedizinischen Puzzleteile einsortieren, was mir die Lust am Lernen zurückgegeben hat. In den folgenden Jahren haben wir dann als Gruppe von Studierenden erst in Bonn und dann gemeinsam mit dortigen Studierenden in Köln Anamnesegruppen aufgebaut. Nach einem Jahr als Teilnehmer machte ich direkt als Tutor weiter und bald darauf organisierten wir in Bonn und Köln die ersten Tutorentrainings und wurden auch Herausgeber einer Ausgabe der POM.
Eine prägende Erfahrung war es in dieser Zeit, dass das medizinische Curriculum nichts Unveränderbares ist, sondern dass sich mit gemeinsamer Kreativität und Engagement Verbesserungen durchsetzen lassen. Die Anamnesegruppen haben in mir nicht nur die Begeisterung für mein Fach - die Psychosomatik -, sondern auch für die Medizindidaktik geweckt. Ich war während meines gesamten Studiums auch in der Fachschaft aktiv. Von meinem Engagement dort ist außer ein paar Aktenordnern nicht mehr viel übrig. Auf die Anamnesegruppen werde ich aber noch oft angesprochen, wenn ich ehemalige Kommilitonen treffe. Vielen ging es so wie mir, dass diese Erfahmng prägend für unsere spätere Art war, mit Patienten umzugehen und im Team zu kooperieren.
So wurde ich dann während meiner Zeit als Assistenz- und Oberarzt Supervisor der studentischen Tutoren. Und als ich Bonn verließ, nahm ich die Anamnesegruppen im Umzugswagen mit, erst nach Homburg und dann nach Dresden. Als ich in Dresden Anamnesegmppen bekannt machen wollte, traf ich am schwarzen Brett mit meinem Aushang in der Hand Tobias Maulhardt, der als Student gerade von Würzburg nach Dresden gewechselt war und ebenfalls die Idee hatte, Anamnesegruppen nach Dresden zu bringen. Gemeinsam leiteten wir die erste Gruppe und bildeten die erste Tutorengeneration aus.
In Dresden hatte ich das Glück, zu der Arbeitsgruppe zu gehören, die das Dresdner Reformcurriculum entwickelt und implementiert hat. Dies geschah in Kooperation mit der Harvard Medical School. Ich konnte an mehreren Kursen und Arbeitstreffen über Medical Education in Boston teilnehmen und gemeinsam mit den Kollegen aus Harvard bauten wir in Dresden ein Schulungsprogramm für die Dresdner Dozenten auf. In den Harvard-Kursen ging es stets um mehr als die bloße Vermittlung von Inhalten: Wesentliches Thema war es, wie man ein Projekt zur Verbesserung der Lehre planen und umsetzen kann und vor allem, wie man Vorgesetzte, Kollegen und Mitarbeiter für ein solches Projekt begeistern kann, um deren Engagement und Kreativität nutzen zu können, anstatt gegen Widerstände anarbeiten zu müssen. Und genau an dieser Stelle kam mir vieles ventraut vor. Ich dachte manchmal, dass wir hier einiges für teures Geld in Boston einkaufen, was wir in den Anamnesegruppen schon lange praktiziert hatten. Tatsächlich waren dann die Dozententrainings unseren Tutorentrainings in vielen Elementen ähnlich. Was mir durch die Harvard-Erfahrung bewusst wurde: Es setzt unglaublich viele Ressourcen frei, wenn man sich traut, Kontrolle abzugeben und die Studierenden oder Kollegen nicht als bloße Erfüllungsgehilfen des eigenen Plans sieht, sondern Freiräume für deren eigene Erfahrungen, die Übernahme von Verantwortung und das Einbringen ihrer Ideen schafft. Und genau das ist die große Stärke von Anamnesegruppen.
Als ich nach 7 Jahren zurück nach Homburg kam, hatten die Anamnesegruppen dort auch ohne wesentliche Unterstützung der Fakultät überlebt. Eine kleine Tutorengruppe um Victor Speidel und Jennifer Schlundt war übrig geblieben und freute sich über meine Kontaktaufnahme. Ich wurde wieder Supervisor. Es wurde allerdings schnell klar, dass eine rein fakultative Lehrveranstaltung keine Zukunft haben würde. So entstand die Idee des Wahlpflichtfaches in der Vorklinik... Inzwischen laufen acht vorklinische Wahlfachgruppen sowie drei offene Gruppen.
Gemeinsam mit Studierenden der Psychologie und im Untersuchungskurs der Inneren Medizin üben Tutoren/Tutorinnen mit den Studierenden drei Doppelstunden Anamnese. Allerdings hat der Erfolg auch seinen Preis: So viele Tutoren/Tutorinnen passen nicht mehr in eine Supervisionsgruppe, so dass wir uns in diesem Semester erstmals aufteilen und mit zwei Supervisoren arbeiten mussten; ein Stück Vertrautheit ging zunächst verloren.
Was ist meine (Zwischen-)Bilanz nach fast 30 Jahren Anamnesegruppen? Ich habe durch sie zu meiner Art, mit Patienten zu sprechen und sie zu verstehen, ebenso gefunden wie zu meiner Art zu lehren. Und auch mein Führungsstil in der Klinik ist durch die Anamnesegruppen geprägt worden. Wenn ich überlege, was von dem, was ich in meinen inzwischen 25 Berufsjahren gemacht habe, mir wirklich etwas bedeutet und Spuren hinterlassen hat, so schneidet viel Zeit, die ich in Sitzungen verbracht habe, nicht so gut ab. Auch vieles von dem, was ich geschrieben habe, halte ich für eher entbehrlich, vielleicht auch dem Publikationswahn der heutigen Wissenschaftswelt geschuldet. Von meiner Zeit in den Anamnesegruppen möchte ich allerdings keine Stunde missen.
Vielleicht noch ein Gedanke zum Schluss: Letztlich bin ich ja gerade dabei, diejenigen Ärztinnen und Ärzte auszubilden, die mich später einmal behandeln werden, denen ich mich anvertrauen muss, wenn ich krank bin. Als wir unser diesjähriges Tutorentraining vorbereitet haben, kam der Wunsch: »Wir arbeiten jetzt schon seit vier Jahren zusammen, aber wir haben noch nie eine Anamnese von dir gesehen!« Also sah ich mich plötzlich in der Rolle des Gesprächsführers wieder - und meine letzte internistische Anamnese ist verdammt lang her... Ich habe wieder gespürt, wie verletzlich die Position des Gesprächsführers ist - und gleichzeitig, wie viel Sicherheit gute Tutoren geben können. Es war ein gutes Gefühl, mich ihrer Moderation anvertrauen zu können - und das macht Mut für die Zukunft ...